Bedrohlich dunkle Wolken hängen tief am Himmel, kalte Böen ziehen den Berghängen entlang und ab und zu peitscht Graupelschauer nieder. Es herrscht so richtiges «Hudelwetter», und dies nur wenige Tage nach beinahe hochsommerlichen Temperaturen Mitte April. Da braucht es schon viel Fantasie, um nur am entferntesten an Alpaufzug und Alpsommer zu denken. Nicht so bei Erich und Anita von Atzigen in Alpnach OW. Ganz ungeduldig warten sie auf gutes Wetter, um auf der Alp «Vordere Chretzen» mit den Vorbereitungsarbeiten beginnen zu können. «Gegüllt haben wir bereits nach Ostern, hagen steht als nächstes an», erklärt Erich von Atzigen. Für jene, die des obwaldnerischen Dialekts nicht mächtig sind: Hagen bedeutet zäunen. Im Hause von Atzigen ist das «Alpen» quasi Dauerthema. In der warmen Küche bei einem heissen «Cheli-Kaffee» (Kaffee Schnaps) berichtet Erich von Atzigen dem Egli Fokus von seiner Passion als Älpler.
Das Älplerleben braucht und gibt Energie
Angefangen hat alles vor 48 Jahren. Der kleine Erich litt als Kleinkind unter Asthma. «Der Bub muss in die Höhe», riet der Arzt von Erichs Eltern. So entschied sich die Familie von Atzigen kurzerhand, zusammen zehn Tage auf der Alp zu verbringen, währenddem sich der «eigentliche» Älpler für einmal um den Heimbetrieb im Äschi kümmern musste. Vom Asthma merkt Erich heute nichts mehr, geblieben ist die Faszination «Alp». Seit diesen «Familienferien» hat er jeden Sommer auf der Alp verbracht. Zuerst als Knirps während der Schulferien als Hirtenbub, später dann, nach dem Tode seines Vaters, als Chef. Rückblickend kann Erich die Offenheit und das Vertrauen seiner Eltern, ihn schon als Bub zusammen mit dem Grossonkel und zwei jungen Mitälplern auf die Alp zu lassen, nicht hoch genug schätzen. Als Chef fährt Erich heuer bereits zum 32. Mal «z Alp». «Es ist schon speziell: Du bist den ganzen Sommer von morgens bis abends auf den Beinen, erledigst und koordinierst nebenher noch die Arbeiten auf dem Heimbetrieb, gehst am Abend müde schlafen, und trotzdem gibt mir das ‹z Alp gha› so viel Energie», erklärt Erich von Atzigen mit leuchtenden Augen und ergänzt, «die Ruhe, die Alpluft, die Verbundenheit mit der Natur und den Tieren, all dies ist ein riesiger Gewinn, obwohl wir auch auf vieles verzichten. Die Sommerabende vor der Alphütte mit dem Kuhgeläut im Ohr würde ich gegen nichts auf der Welt eintauschen.»
Drei Tonnen Käse müssen einen Käufer finden
Die Alp «Vordere Chretzen» liegt am Südhang des Pilatus und ist Eigentum der Korporation Alpnach. Die Alp umfasst 74 Alpstösse und wird von Erich von Atzigen zusammen mit zwei weiteren Landwirten bestossen. So ab 20. Mai wird auf die erste Staffel auf 1400 m ü. M. aufgefahren, die zweite Staffel liegt auf 1510 m ü. M. Der gute Futterwuchs erlaubt es, die Weiden der ersten Staffel dreimal, diejenigen der zweiten Staffel zweimal zu nutzen. Die Rinder weiden auf der dritten Staffel bis auf über 1800 m ü. M. bis knapp unter das Matthorn am Pilatus. Nebst den 34 Milchkühen und den 45 Stück Jungvieh gehören noch zwei bis drei Geissen und 40 Schweine zum Viehbestand auf der Alp. In der mit der Nachbarsalp «Hintere Chretzen» gemeinsam betriebenen Alpkäserei verarbeitet der Käser die Milch der beiden Alpen. Elf bis zwölf Tonnen Alpkäse und Bratchäs werden pro Saison produziert und Ende Alpsommer auf alle beteiligten Landwirte aufgeteilt.
Von Atzigens Anteil beträgt dabei rund drei Tonnen. Die Vermarktung ist Anitas «Geschäftsbereich»; ihre Schwiegermutter unterstützt sie dabei immer noch tatkräftig. Der Absatz ist in der Regel kein Problem, von Atzigens können auf eine grosse, treue Kundschaft zählen. Trotzdem sei der Verkauf kein Selbstläufer, gibt Anita von Atzigen zu bedenken, und man müsse immer wieder auf Veränderungen reagieren können. Seit einigen Jahren gehe beispielsweise der Absatz in der Gastronomie zurück. «Unser Alpkäse ist in Restaurants für Cordons bleus sehr beliebt. Viele Gastwirte stellen die Cordons bleus jedoch nicht mehr selbst her, sondern kaufen diese fixfertig im Grosshandel», erklärt Anita. Die Lücke konnte dank dem wachsenden Verkauf an Privatpersonen, die den Alpkäse direkt einkaufen, geschlossen werden. «Die Leute wollen wissen, woher das Produkt kommt und sind auch bereit, dafür einen angemessenen Preis zu bezahlen», stellt Anita von Atzigen fest.
Endlich geht es wieder los
Nun steht er also bevor, der Alpsommer 2024. Die Nervosität und die Vorfreude wachsen. Die Vorbereitungsarbeiten haben bereits im Dezember begonnen. «800 neue Hagstecken (Pfähle) brauchen wir jede Saison auf der Alp, die ich im Winter herstellen muss», erklärt Erich von Atzigen dazu. Sobald es das Wetter zulässt, beginnt er auf der Alp dann mit dem Hagen für die Kuhweiden. Dies bedeutet, zusammen mit einer Hilfskraft, zehn Tage strenge Arbeit auf den meist sehr steilen Weiden der Alp «Vordere Chretzen». Von Anfang Mai bis Ende Alpsaison arbeitet ein festangestellter Mitälpler auf der Alp und dem Heimbetrieb mit.
Aufgefahren wird in der Regel so um den 20. Mai. «Wir sind immer alle froh, wenn es dann endlich so weit ist», erklärt Anita mit einem Seitenblick auf ihren Mann. In den Tagen vor der Auffahrt ist die Unruhe gross, es gilt den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. «Wenn das Wetter stimmt und das Graswachstum so richtig loslegt, musst du bereit sein», gibt Erich dazu zu bedenken. Drei Stunden dauert der Aufzug zu Fuss mit dem Vieh. Noch halb in der Nacht schnallen von Atzigens und ihre Helfer den Kühen die Treicheln um und marschieren dann los. Ein unglaubliches Gefühl sei dies, erklärt Erich von Atzigen. «Du marschierst in den Sonnaufgang hinein, deine Tiere folgen dir Schritt auf Schritt und vollbringen am Schluss Freudensprünge im saftigen Alpgras. Das ist ein Highlight für die ganze Familie» schwärmt Erich von Atzigen und hält einen Moment inne. Da spürt man sie förmlich, diese Magie der Faszination Alp.
Vom Wandel und Traditionen
Der Wandel der Zeit macht auch vor der Alpwirtschaft nicht halt. Vor Jahren waren noch sechs Landwirte an der gemeinsamen Bewirtschaftung beteiligt, heute noch drei. Die anfallenden Vorbereitungs- und Pflegearbeiten verteilen sich so auf immer weniger Schultern. Gleichzeit steigt der Aufwand für die Weidepflege, da die Verbuschung in den letzten Jahren immer stärker zugenommen hat. Sorgen bereitet die zunehmende Trinkwasserknappheit während der Alpsaison. Deshalb soll nun eine neue Trinkwasserleitung erstellt werden, gleichzeitig mit der Stromerschliessung, denn noch gibt es auf der «Vorderen Chretzen» keinen Stromanschluss. Der Strom wird mit einem Generator und einer kleinen Solaranlage erzeugt. Doch die Grabarbeiten im steilen und felsigen Gelände sind aufwendig und teuer. Ein heiss diskutiertes Thema in Älplerkreisen ist der Mangel an motiviertem Alppersonal. «Wir hatten bis jetzt Glück und durften all die vergangenen Jahre auf zuverlässige Mitarbeitende zählen. Dies schätzen wir sehr», sagt Erich von Atzigen.
Etwas hat den Wandel der Zeit jedoch überdauert, «und das wird auch so bleiben», ist Erich von Atzigen überzeugt: der Betruf. Bis ins 16. Jahrhundert kann diese Tradition im Pilatusgebiet zurückverfolgt werden (siehe Kasten). Schon als Kind lauschte Erich von Atzigen beim Einschlafen im Heubett dem Dankesgebet der Älpler. Später setzte er die Tradition fort und nimmt nun mit Stolz und Freude zur Kenntnis, dass ihm seine Kinder diese Arbeit immer öfters abnehmen. Die Kinder verbringen seit klein auf ihre Ferien und schulfreien Tage gerne auf der Alp und packen mit an. «Ja, wir hoffen natürlich schon, dass unsere Kinder einmal in unsere Fussstapfen treten», erklären Anita und Erich einstimmig und schauen sich dabei an. Ja, wen die Faszination Alp einmal gepackt hat, lässt sie scheinbar nicht mehr los.
Das Sennengebet
Wer ans «z’Alp gha» denkt, dem kommt unweigerlich der Betruf in den Sinn. Die Tradition des Gebets der Sennen wird auch heute noch auf vielen Zentralschweizer Alpen gepflegt. Nach getaner Arbeit sucht der Senn einen geeigneten Platz in der Nähe seiner Hütte und ruft durch eine «Folle» (Milchtrichter aus Holz) den Betruf ins Tal. Das «Ave-Mariarüeffen», wie es einst genannt wurde, kann erstmals im 16. Jahrhundert auf den Alpen des Pilatus nachgewiesen werden. Seine Ursprünge gehen aber wohl ins Spätmittelalter zurück. Der Betruf unterscheidet sich je nach Region, ja sogar je nach Alp.Quelle: www.lebendige-traditionen.ch
Pilatus Betruf auf der Alp Vorder Chretzen
Lobä! Zuä Lobä! I Gotts Namä! Lobä!
Lobä! Zuä Lobä! Isärä liäbä Fraiwä Namä! Lobä!
Lobä! Zuä Lobä! Allä Häiligä Gottes Namä! Lobä!
Gott und der liäb häilig Sant Antoni, Sant Wendel und Sant Marti wellid is diä Nacht uf därän Alp diä liäb Härd erhaltä.
Äs isch äs Wort, das wäiss der liäbi Gott wohl.
Hiä und über diser Alp staht ä goldigä Thron.
Drin sitzt diä liäb Muätter Gottes mit irem allerhärzliäbschtä Sohn.
Und isch mit vilä Gnadän ubergossä.
Gott und diä Hochhäiligscht Drifaltigkeit ischt in irem Härzä verschlossä:
's Erscht isch Gott Vater, 's Ander isch Gott der Sohn, 's Dritt isch Gott der liäb Heilig Gäischt.
Gott well is behiätä und bewahrä vor allem Ibel und besä Geischt.
Ave! Ave! Ave Maria!
O liäbi Muätter Gottes Maria!
Jesus! Jesus Christus! O liäber Herr Jesus Chrischt!
Bhiät Gott Seel, Lib, Veh, Ehr und Guät, und alles, was uf disi Alp derzuä gherä tuät.
Äs walti Gott und der liäb häilig Sant Antoni!
Äs walti Gott und der liäb häilig Sant Wendelin!
Äs walti Gott und der liäb häilig Sant Marti!
Äs walti Gott und der liäb häilig Landesvater Bruäder Chlais!
Äs walti Gott und diä liäb allerhäiligscht Jungfrai Maria!
Äs walti Gott und diä Hochhäiligscht Drifaltigkeit:
Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der liäb Häilig Gäischt!
Lobä! Zuä Lobä! I Gotts Namä! Lobä!
Text Betruf zur Verfügung gestellt von Familie von Atzigen